010 (1897): Admiral Cigarette, entstanden und aufgeführt 1897 in Amerika, Regie: William Heise

Dieses Kapitel wird vor allem meine Leserschaft in Berlin-Mitte erfreuen. Genauer, die mit bolivianischem Marschpulver durchsetzten Messagemaker, die im Auftrage des Kommerzes keinem einzigen Kader nicht werbewirksam und unreflektiert Botschaften aufnötigen. Bevor diese niederträchtigen Vergewaltiger des Films hier also etwas zum vielleicht ersten Werbefilm lesen dürfen, will ich sie wenigstens ein bisschen mit filmgeschichtlichen News peinigen – um mich allerdings nicht allzu unbeliebt bei der Zielgruppe zu machen, versuche ich mich so angemessen knapp und oberflächlich wie möglich zu halten.

Frankreich: Die Lumières entschieden sich, jetzt, wo sich diesbezüglich ernstzunehmende Konkurrenz auftat, ihren Cinématographen doch auf dem freien Markt zum Kauf anzubieten und nicht wie bisher nur an ausgewählte Lizenznehmer zu verpachten[1] (siehe Kapitel 009). Da sie der großen Nachfrage mit ihrer vergleichsweise kleinen Firma produktionstechnisch jedoch nicht nachkommen konnten, verkauften Sie ihre Patente für gutes Geld an die mittlerweile durch Rückendeckung eines Bankiers (Jean Neyret) äußerst finanzstarken Pathés[1], [2], [3]. Wie auch Edison anfänglich, glaubten die Lumière-Brüder nicht an die Zukunft des Films, Charles Pathé, der sich in den folgenden Jahren für die Industrialisierung des Films verantwortlich zeichnen sollte, allerdings umso mehr[4], [5] (siehe Kapitel 006). Auch Gaumont blieb gut im Geschäft, verkaufte fleißig seine Kameras und vertrieb mittlerweile 80 Filme, darunter einige der Lumières[3], [6]. Im selben Monat jedenfalls (Mai), in dem deren Cinématograph (wahlweise auch nur der Projektor) offiziell in den Läden stand, kam es unglücklicherweise zu einem nicht sonderlich werbewirksamen Unglück bei einer Vorführung in Paris: Nachdem die Projektionslampe erlosch, begann der Vorführer sogleich, diese wieder mit Ether zu befüllen, während sein nahe stehender Assistent auf die verheerende Idee kam ein Streichholz anzuzünden… die Lampe und der hochentzündliche Zelluloidfilm explodierten, 121 Menschen starben[3]. Zwar war die Sache vermutlich ein temporär herber Rückschlag für den etablierten Cinématographen, aber er wurde weder verboten, noch konnte das Ereignis seine Verbreitung ernsthaft aufhalten[3]. Was den ultrahitzeempfindlichen Zelluloidfilm im Allgemeinen betrifft, steht für das Cineastenherz wohl zu befürchten, dass unzählige unbekannte Filme verbrannt und also für immer verloren sind. Méliès – beileibe nicht untätig – gründete Star Film und ließ in seinem Garten in Montreuil ein extrem schickes Studio bauen, das im Gegensatz zu z.B. Edisons Black Maria (siehe Kapitel 006) fast komplett aus Glas bestand und ihm so einen gigantischen Lichtvorteil bescherte[7], [8]. Zweckmäßig verwendete er sogar unterschiedliches Glas: mattes an den Seiten, am Dach überwiegend mattes, nur dort wo das Licht für die Schauspieler auf der Bühne durchfiel, klares[3]. Man kann diese Bauform getrost als Prototyp der europäischen Stummfilmstudios bezeichnen[9]. Ein uns bisher Unbekannter namens Raoul Grimoin-Sanson hatte derweil – im wahrsten Sinne des Wortes – Größeres vor. Er patentierte – beruhend auf einem Konzept von Auguste Baron aus dem Jahre 1896 – das erste Multiprojektions-Verfahren (Cinécosmorama), mit welchem in naher Zukunft zehn synchronisierte Projektoren ihre Bilder auf eine 100 Meter umfassende 360°-Leinwand werfen sollten[10] – ich komme darauf zurück.

England: Robert William Paul gründete die Paul Animatograph Company[3] und American Mutoscope errichtete in London ein Studio, angelehnt an Méliès  Bauweise mit Glaswänden[11] – mit dem Studio kommt auch Dickson in die verregnete Stadt, die fortan und bis zu seinem Lebensende seine Homebase bleiben sollte[12].

Deutschland: Nicht viel, dafür aber Qualitatives. Messter, der uns ja im letzten Jahr schon die Zeitlupe bescherte, drehte den Spieß um, filmte mit 1500 Bildern in 24 Stunden eine verwelkende Blume und erfand so… Was? Genau, die Zeitraffertechnik, neudeutsch Timelapse[13].

Amerika: Ein hochinteressanter und wichtiger Neuzugang in unserer illustren Pionier-Runde ist Albert E. Smith. Er zog seit 1894 zusammen mit James Stuart Blackton und Ronald A. Reader durchs zunächst englische Land und präsentierte eine zirkusähnliche Attraktions-Show (Cartoon-Zeichnen, Zaubertricks, Laterna Magica-Aufführungen usw.) bis er Anfang 1897 zusammen mit Blackton – alle drei waren zwischenzeitlich in die USA ausgewandert und hatten Nebenjobs – ein Edison-Vitaskop (das sie einfach offiziell in Edison-Vitagraph umbenannten) und zehn Edison-Filme erstand und eben diese Filme erfolgreich in die Show mitaufnahm[11], [14]. Schnell war ihm klar, dass er selbst Filme machen wollte, so dass er den Projektor in den folgenden Monaten in eine Kamera umbaute, mit Blackton die (doch schon ziemlich frech nach Edison klingende) Fima American Vitagraph gründete und sogleich mit der eigenen Filmproduktion begann[11]. Zwei weitere Neuzugänge sind ein gewisser Edwin S. Porter, der als Handelsvertreter in Edisons Firma eintrat[15] und den wir uns jetzt schon mal vormerken, weil wir noch viel von ihm hören werden und der deutschstämmige Optiker Siegmund Lubin[11], der einen eigenen Projektor (entwickelt mit Jenkins) auf den Markt brachte, Agent für Edison-Filme wurde, in diversen Museen Filme ausstellte und schließlich Ende des Jahres selbst begann, Filme zu produzieren[16].  Naja und dann war da natürlich Edison, und dieses Jahr machte er noch mehr Stunk als sonst. Er begann einen bitterbösen Patentkrieg. Er hetzte zunächst – mit der Bitte, doch alle Aktivitäten einzustellen – Anwälte ohne Gewissen (z.B. Frank Lewis Dyer) auf die 1896 von Charles H. Webster und Edward Kuhn (ein ehemaliger Mitarbeiter Edisons) gegründete International Film Company, die sich unter anderem darauf spezialisiert hatte, ausländische Filme und Projektoren (darunter exakte Kopien bestehender Modelle) zu importieren – irgendwoher hatte er sich ein rechtsgültiges Patent-Schriftstück besorgt, das ihn als alleinigen Erfinder der bewegten Bilder auswies[3]. In den folgenden Jahren drangsalierte er mit dem Recht auf SEINE Erfindung weltweit und in seinem eigenen Land so ziemlich jeden seiner Konkurrenten und entledigte sich einiger. Erschwerend für ausländische Filmemacher und Firmen und unterstützend für Edison kam ein im Juli verabschiedetes Gesetz hinzu, dass die amerikanische Filmwirtschaft mit horrenden Einfuhrverbotssteuern für Filmkrams (bis zu 65 Prozent des Wertes) schützen sollte[3]. Als z.B. ein französischer Vertreter im Auftrage der Lumières mit einer Ladung Cinématographen vor der Küste New Yorks aufkreuzte, wurde dieser schnurstracks Hops genommen und des Landes verwiesen – für ihn, die Lumières und andere war er erst mal aus, der amerikanische Traum[3].

So, da Werbefuzzis aus Berlin-Mitte bekanntlich die Aufmerksamkeitsspanne eines Zwölfjährigen im Zuckerschock haben und oft schon mit einer Twitter-Nachricht von Sascha Lobo kognitiv (ähh…was?) überfordert sind, gehe ich davon aus, dass wir sie mittlerweile los sind. Vermutlich werden sie gerade einer unbezahlten Praktikantin bei einem Frozen Yogurt unaufgefordert von einem unheimlich interessanten Buch erzählen, dass sie gerade lesen. Uns jedenfalls vermiesen sie hier mit ihrer Anwesenheit nicht länger die Fakten.

Apropos Fakten. Diese prägten auch die filminhaltliche Entwicklung des Jahres, ganz klarer Trend waren hier kurze Nachrichten-Clips. Anstatt weiter alltägliche Dinge und Tätigkeiten abzufilmen, begann man im großen Stil, geschichtliche oder gesellschaftliche Großereignisse zu dokumentieren. So sieht man in Robert Paul’s Queen Victoria’s Diamond Jubilee den prachtvollen Festzug zu Königin Victorias 60. Thronjubiläum, den übrigens so ziemlich jede englische Filmfirma festhalten ließ[11]. In dem ursprünglich in zwölf Teilen veröffentlichten Werk kann man massenweise Marschierende, Reiter, Kutschen und Kanonen bewundern, nur eines dummerweise nicht: die Königin selbst[17]. Unbedingt erwähnenswert ist auch der vom russischen Hoffotographen Bolesław Matuszewski für die Lumières produzierte Le voyage du Président Félix Faure en Russie (Août 1897): Entrée du Président Félix Faure à Saint-Pétersbourg. Weniger wegen seines Inhaltes (der französische Präsident Félix Faure wird von dem letzten russischen Zaren Nikolaus II. bei einem offiziellen Staatsbesuch in St. Petersburg in Empfang genommen), sondern weil er als Beweismittel zur Ehrenrettung von Faure genutzt wurde – es wurden nämlich seitens unseres Kanzlers Bismarck fiese Gerüchte laut, der Präsident hätte bei der Ankunft vor der russischen Flagge (zur Respekterweisung gegenüber dem Zaren) nicht den Hut gezogen, hat er aber[11], [18]. Auf diese Weise mag bei den Hitzköpfen damals womöglich ein Krieg verhindert worden sein, der erste echte Krieg wiederum wurde unter allerhöchster Lebensgefahr auch im selben Jahr gefilmt: Frederick Villiers war Kriegsberichterstatter und wagte sich im April während des kurzen türkisch-griechischen Kriegs nur mit einer Kamera bewaffnet auf das Schlachtfeld von Vólos[13]. Leider jedoch hatte sich der Einsatz nur bedingt gelohnt, denn die Szenen bekam die Öffentlichkeit nie zu sehen – die Originale ließen sich nicht verkaufen, weil sie nicht mit dem (bereits vor der Rückkehr von Villiers veröffentlichtem) dramaturgisch geschliffenerem und actionreicherem Fake von Méliès‘ Star Film (Combat naval en Grèce) mithalten konnten[19]. Durch die zahlreichen nicht gefakten  filmischen Berichterstattungen des hier besprochenen Jahres wurde jedenfalls der Grundstein für die Wochenschauen gelegt, die sich etwa zehn Jahre später weltweit in den Kinos verbreiten sollten. Ich gebe ab zur Werbung…

…Vor einer Plakatwand, auf der riesengroß der Original-Schriftzug  „ADMIRAL Cigarette“  prangt, sitzen rechts (in einer geselligen Runde ein Schwätzchen haltend) ein Geschäftsmann, ein Indianer, ein Geistlicher und Uncle Sam. Links vor dem Plakat befindet sich währenddessen eine fast mannshohe Schachtel der Zigarettenmarke. Aus dieser entspringt dann – schwupp – eine junge rauchende Frau in einer Art Robin Hood-Kostüm und schenkt der Reihe nach jedem der Herren jeweils eine der beliebten – übrigens schon brennenden – Nervengiftstangen, bevor sie etwa 50 weitere gönnerhaft in der Umgebung verteilt. Die Runde ist begeistert und kein geringerer als Uncle Sam selbst packt nun ein Transparent aus, das man gemeinsam ausrollt und der Zielgruppe werbewirksam entgegenhält: „WE ALL SMOKE“.  So und nicht anders stellt sich der zumindest erste, urheberrechtlich als solcher geschützte Werbefilm dar[13].  Sehr kurzweilig hat das Heise für Edison inszeniert, das muss man schon sagen. Die ganze Machart – und deshalb finde ich das Werk sehr wichtig – ist ziemlich zeitlos und alles würde heute vermutlich noch genauso gut funktionieren. Ob Heise und Edison diesbezüglich ihrer Zeit voraus waren oder sich die kommerzielle Werbung in den letzten 100 Jahren nur schleppend entwickelt hat, das entscheiden Sie bitte selbst. Nicht unfuturistisch – das steht fest – war die Aufführung von Admiral Cigarette, denn abwechselnd mit anderen Werbefilmchen (Bier, Schokolade, Whiskey) – z.B. von der International Film Company – wurde er zwischen kurzen Komödien auf einer riesigen Leinwand auf der Spitze des New Yorker Pepper-Gebäudes in der 34. Straße gezeigt[13]. Der Vorführer – der bereits vorgemerkte Porter – wurde der Legende nach wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und Verkehrsbehinderung kurzzeitig festgenommen[13], herrlich. Welcher direkte Werbefilm (indirekt wäre z.B. die seit 1895 praktizierte Finanzierung einer gezeigten Reisefahrt durch die Eisenbahngesellschaft oder ein durchs Militär gesponserter Kriegsfilm[20]) tatsächlich der erste war, ist letztlich schwer zu sagen und ob er überhaupt aus Amerika stammt. Auch in England (Fahrradreifen, Pudding, Waschmittel), Frankreich (Senf) und Deutschland gab es 1897 bereits einige Vertreter und ein deutscher Reklamefilm (Badewanne) von Messter wurde nachweislich bereits 1896 fertiggestellt[13]. In BERLIN MITTE (siehe Kapitel 009), was doch wohl nicht wahr sein kann!

Den Film des Jahres suchen und finden Sie im weltweiten Web problemlos unter „Admiral Cigarette“ oder Sie füttern Ihren DVD-Player mit More Treasures from American Film Archives (Kapitel 007). Die übrigen erwähnten Werbefilmchen gelten bis auf eines für Whiskey (Dewar’s Scotch Whiskey) als verschollen – finden Sie also wenigstens dieses Überbleibsel im Netz unter „Dewars 1897“ oder auf The Movies Begin (Kapitel 001).  Ansonsten googeln Sie Méliès‘ Combat naval en Grèce wortwörtlich oder sichten ihn auf Georges Méliès: Encore (Kapitel 009), um schließlich bezüglich Queen Victoria’s Diamond Jubilee entweder netztechnisch unter „Queen Victoria Jubilee“ fündig zu werden oder ihn auf der UK-DVD R.W. Paul: The Collected Films 1895-1908 vom britischen Filminstitut BFI (Amazon.co.uk) zu bewundern.


[1] Leisen, J. (02. Mai 2011). 35 Millimeter: Texte zur internationalen Filmkunst – Der Cinèmatograph. Abgerufen am 02. Mai 2011 von http://www.35millimeter.de/filmgeschichte/frankreich/1895/der-cinematograph.42.htm

[2] Faulstich, W. (2005). Filmgeschichte. Stuttgart: UTB.

[3] Karney, R., & Finler, J. W. (2005). Cinema Year by Year 1894-2005. London: Dorling Kindersley Limited.

[4] Fischer, S. (05. Februar 1999). Filmproduktion und Gerätehersteller: Das Pathe-Imperium. Hamburger Flimmern , S. 17-25.

[5] Fischer, E. (2007). Französische Filmgeschichte. 1895-1914. München: GRIN Verlag.

[6] Abel, R. (1998). The Ciné Goes to Town: French Cinema, 1896-1914. Berkeley: University of California Press.

[7] Ezra, E. (2000). George Méliès: The Birth of the Auteur. Manchester: Manchester University Press.

[8] Bordwell, D., & Thompson, K. (2009). Film Art: An Introduction, (9. Ausg.). Columbus: McGraw-Hill Humanities/Social Sciences/Languages.

[9] Robinson, D. (1996). Marie-Georges-Jean Méliès (1861-1938). In S. Herbert, & L. McKernan, Who’s Who of Victorian Cinema: A Worldwide Survey. London: BFI Publishing.

[10] Meusy, J.-J. (Januar 1991). L‘enigme du cinéorama de l”Exposition Universelle de 1900. Archives.

[11] Burns, P. (2010c). The History of The Discovery of Cinematography – Chapter Fifteen (1895 – 1900). Abgerufen am 16. März 2011 von http://www.precinemahistory.net/1895.htm

[12] Brown, R. (1996). William Kennedy-Laurie Dickson (1860-1935). In S. Herbert, & L. McKernan, Who’s Who of Victorian Cinema: A Worldwide Survey. London: BFI Publishing.

[13] Robertson, P. (1993). Das neue Guinness Buch Film. Berlin: Ullstein Hc.

[14] Lussier, T. (1999). Articles and Essays – Vitagraph – Three men and their ‘baby’. Abgerufen am 02. Mai 2011 von http://www.silentsaregolden.com/articles/vitagrapharticle.html

[15] Monaco, J., Bock, H.-M., & Lindroth, D. (2002). Film verstehen. Reinbek, Berlin: Rowohlt.

[16] Musser, C. (1994). The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907 (History of the American Cinema). Berkeley: University of California Press.

[17] JoeytheBrit. (19. November 2009). The Internet Movie Database – Queen Victoria’s Diamond Jubilee (1897) – No Wonder the Rental Disc was in Perfect Condition… Abgerufen am 02. Mai 2011 von http://www.imdb.com/title/tt0244155/usercomments

[18] Fisher, D. (25. April 2009). Terra Media – Chronomedia – 1897. Abgerufen am 02. Mai 2011 von http://www.terramedia.co.uk/Chronomedia/years/1897.htm

[19] Bottomore, S. (1980). Frederic Villiers – war correspondent. Sight and Sound, S. 250–255.

[20] Perkins, D. J. (1985). Sponsored Business Films: An Overview 1895-1955. Film Reader, S. 125–132.

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