Nur zu gerne hätte ich an dieser Stelle berichtet, bei Miss Jerry von Alexander Black handele es sich um den ersten abendfüllenden, neudeutsch Feature Film. Werde mich allerdings hüten, denn die Romanze ist lediglich ein so von ihm selbst benanntes Picture Play, bei dem durch eine modernere Variante einer zweilinsigen Laterna Magica alle 15 Sekunden schwarz-weiße Fotos an die Wand projiziert wurden, während Black himself dazu die Stimmen aller Protagonisten sprach[1]. Find ich dennoch irgendwie erwähnenswert, superknorke und wäre ich gern dabei gewesen. Es existieren nur noch Magazinfotos einiger Bilder[2]. Sorry, aber bis zum ersten echten Langfilm müssen Sie sich noch etwa 10 Jahre gedulden.
Was den überwiegenden Rest der aus diesem Jahr stammenden Werke betrifft, so sind die meisten – of course – von Edison, der Mitte des Jahres erfolgreich begann, die ersten münzbetriebenen Kinetoskope in New York aufzustellen und beginnend mit einem ziemlichen Rotzfilm (Edison Kinetoscopic Record of a Sneeze, die erste Nahaufnahme[3]) die ersten Copyrights der Filmgeschichte erwirkte[4]. Im Großen und Ganzen wurden weiterhin Sportclips und Kurzdokus gedreht und eine Auswahl lief dann jeweils in Endlosschleifen zur Besichtigung[5]. Der größte Hit in den Peepshows des Big Apple aber – zumindest bei den Männern – waren diverse sexy Tanzszenen, meistens mit einer Darstellerin namens Annabelle Moore – einem sehr heißen Feger und dem ersten Star der Filmgeschichte, zudem dank Handkolorierung dem ersten in Farbe[5]. Im jungen Tanzfilm-Genre übertrieb es Dickson übrigens moralisch auch sogleich: Anscheinend triebhaft stark angeheitert ließ er sich bei Carmencita zu einer völlig abseitig perversen Inszenierung hinreißen, in der er es nicht verhinderte, kurz den Unterrock der spanischen Schönheit zu zeigen. Das führte in den ansonsten sehr aufgeschlossenen USA zur filmhistorisch ersten Zensur, genauer zum Aufführungsverbot[6] – vollkommen zu Recht.
Der interessanteste, weil amtlich erste originalvertonte Film[5] stammt auch und wieder – wie sollte es auch anders sein – von Willie Dickson, wenngleich die Sache eher ein technisches und zunächst nicht sonderlich gelungenes Experiment darstellte. Dickson musste sich in den Edison-Werken gefühlt haben, wie heutzutage ein Wissenschaftler am MIT, hatte er doch Zugang zur neusten und besten Technik und durchaus auch gewisse Freiheitsgrade. Der Phonograph, ein Gerät zur akustisch-mechanischen Aufzeichnung (auf Wachswalzen) und Wiedergabe (über Hornlautprecher) von Schallereignissen, war bereits seit 1877 greifbar[7], also lag es im wahrsten Sinne des Wortes nahe, das Gerät irgendwie mit dem Kinetoskop zusammenzuwurschteln. Das gelang ihm, jedoch allerhöchstens suboptimal: Der mit trendy Ohrstöpseln ausgestattete Schaukasten war nicht annähernd in der Lage, die Bilder mit dem aufgezeichneten Ton zu synchronisieren, so dass es seinerzeit zu keiner Aufführung von Dicksons Tonfilm kam und das Kinetoskop für die nächsten 18 Jahre auf Eis gelegt wurde[8].
Über 60 Jahre später: Die Wachswalze, mit dem Originalton, die lange als verschollen galt, wird in den Edison-Labors gefunden, sie ist allerdings zerbrochen und dass es besagte Walze ist, weiß keiner[9]. Etwa 40 weitere Jahre später (1998) wird die Walze repariert und die Verbindung zum Film kann hergestellt werden[9]. Nun bedarf es nur noch eines Tonexperten, der sich der Synchronisation annimmt, und das tat dann federführend glücklicherweise niemand Geringers als der Schwarzgurt des Tonschnitts (Coppola’s The Conversation): Walter Murch[10]. Das Ergebnis kann sich seit 2001 offiziell hören und sehen lassen[9].
Das 17-sekündige Werk nunmehr mindestens zweier Meister zeigt den bekanntlich nicht gerade kamerascheuen Dickson Violine spielend vor einem wirklich sehr großen Aufnahmetrichter, während vor ihm zwei Männer – sich umarmend – tanzen und kurz vor Schluss ein vierter hinten links die Szene betritt. Dass die Beiden sich in den Armen halten, veranlasste den Filmhistoriker Vito Russo dazu, hier ironiefrei den ersten homosexuellen Bezug in der Filmgeschichte zu entdecken und das Werk kurzerhand in The Gay Brothers umzutaufen[11] (Es findet sich mittlerweile sogar ein entsprechender Fake- oder Unwissenheitseintrag in der IMDb[12]). Ob man, auch wenn die Lyrics des Liedes, das auf der Violine gespielt wird (die aber freilich nicht zu hören sind) das Leben von Männern ohne Frauen auf hoher See feiern[13], hier auch nur ansatzweise irgendetwas gleichgeschlechtlich Liebevolles reininterpretieren kann, sei schwerstens dahingestellt[14]. Wahrscheinlich – das ist meine Theorie – war in der hochtechnisierten Umgebung einfach keine Frau zum Tanz zur Hand, oder aber – das ist meine zweite Theorie – der subtile Willie wollte der Welt demonstrieren, dass Frauen und Technik nicht zusammengehören, dass man sie tunlichst davon fernhalten sollte, oder – das ist die Symbiose meiner beiden ersten Theorien – Willie hielt die Frauen von all der Technik fern, weshalb sich schließlich, keine zum Tanz einfinden konnte. Für mich ohne Frage der erste Film mit offener frauenfeindlicher Botschaft. Hmm, dass allerdings noch keiner auf die Idee kam, Homophobie zu wittern…
Entscheiden Sie selbst mittels Edison: Invention of the Movies (siehe Kapitel 003) – worauf sich auch Edison Kinetoscopic Record of a Sneeze und Carmencita befinden – oder aber mit der ebenfalls nur in den USA als Box (NTSC, RC0) erhältlichen More Treasures from American Film Archives von Image Entertainment (Amazon.com). Mit Google finden sie rechtlich unbedenklich Edison Kinetoscopic Record of a Sneeze unter „The Sneeze Edison“ und den Schweinkramfilm unter „Carmencita Edison”. Und schauen Sie bei Gelegenheit mal The Conversation, falls Sie ihn noch nicht kennen (von Walt Disney Studios Home Entertainment als UK-DVD bei Amazon.co.uk; als deutsche DVD namens Der Dialog ab Mitte 2011 von Kinowelt bei Amazon.de). Die HBO-Dokumentation The Celluloid Closet von Rob Epstein und Jeffrey Friedman über die Geschichte des schwulen und lesbischen Films, die Verfilmung des gleichnamigen Buches von Russo dem Übereifrigen kann ich Ihnen als deutsche DVD auch <Kalauermodus ein> wärmstens <Kalauermodus aus> empfehlen (Pro-Fun Media, Amazon.de).
[1] Herbert, S. (1996b). Alexander Black (1859-1940). In S. Herbert, & L. McKernan, Who’s Who of Victorian Cinema: A Worldwide Survey. London: BFI Publishing.
[2] Black, A. (1895). Photography In Fiction – “Miss Jerry”, The First Picture Play. Scribner’s Magazine, 18 (3), S. 348-361.
[3] Robertson, P. (1993). Das neue Guinness Buch Film. Berlin: Ullstein Hc.
[4] Library of Congress. (27. Juli 2010). American Treasures of the Library of Congress: A Sneeze Caught On Film. Abgerufen am 10. Februar 2011 von http://www.loc.gov/exhibits/treasures/trr018.html
[5] Dirks, T. (2011). Filmsite: Timeline of Greatest Film Milestones and Turning Points in Film History. Abgerufen am 09. Februar 2011 von http://www.filmsite.org/milestonespre1900s_2.html
[6] Tropiano, S. (2009). Obscene, Indecent, Immoral and Offensive: 100+ Years of Censored, Banned, and Controversial Films. New York: Limelight Editions.
[7] Frow, G. L. (1994). Edison Cylinder Phonograph Companion. Woodland Hills: Stationery X-Press.
[8] Rogoff, R. (1976). Edison’s Dream: A Brief History of the Kinetophone. Cinema Journal American Film History, 15 (2) , 58-68.
[9] Loughney, P. (2001). Domitor Witnesses the First Complete Public Presentation of the Dickson Experimental Sound Film in the Twentieth Century. In R. Abel, & R. R. Altman, The Sounds of Early Cinema (S. 215-219). Bloomington: Indiana University Press.
[10] Carlsson, S. E. (2004). FilmSound.org: Dickson Experimental Sound Film 1895. Abgerufen am 10. Februar 2011 von http://filmsound.org/murch/dickson.htm
[11] Russo, V. (1987). The Celluloid Closet: Homosexuality in the Movies. New York: Harper Paperbacks.
[12] IMDb.com Inc. (1990-2011j). The Internet Movie Database: The Gay Brothers (1895). Abgerufen am 13. Februar 2011 von http://www.imdb.com/title/tt0219008/
[13] Rivera, L. (26. Januar 2009). W-Cinema: Dickson Experimental Sound Film (1894) . Abgerufen am 13. Februar 2011 von http://w-cinema.blogspot.com/2009/01/dickson-experimental-sound-film-1894.html
[14] Dixon, W. W. (2003). Straight: Constructions of Heterosexuality in the Cinema (Suny Series, Cultural Studies in Cinema/Video). Albany: State University of New York Press.