008 (1895): The Execution of Mary, Queen of the Scots, entstanden und aufgeführt 1895 in Amerika, Regie: Alfred Clark

Stifte raus! Aufschreiben: 1895 ist das Geburtsjahr des deutschen Films, besser noch: das des deutschen Kinos. Zu verdanken haben wir den oder das Kintopp den knuffigen von der Glasmalerei, Fotographie und Schaustellerei kommenden Gebrüdern Max und Emil Skladanowsky. Sie brannten am 1. November 1895 vor zahlender Kundschaft im voll besetzten Ballsaal des Berliner Varieté Wintergarten mit einem abenteuerlichen Kasten, dem von ihnen erfundenen Bioskop, Bewegtbildgeschichte in die Leinwand[1]. Gezeigt wurde ein orchestral begleitetes etwa 15-minütiges Kurzfilmprogramm, bestehend aus acht teils akrobatischen Nummern, die die Brüder selbst mit ihrer – ebenfalls sehr abenteuerlichen – „Kurbelkiste I“ aufgenommen hatten[2]. So sah man z.B. Das boxende Känguruh, Die Serpentintänzerin, witzige Reckturner (Komisches Reck) oder ein Akrobatisches Potpourri. Im Abschlussfilm (Apotheose) verbeugten sich die beiden Macher vor ihrem überwiegend begeisterten, mitunter (der Sage nach) aber auch durch die „Zauberei“ verängstigten[3] Publikum. Die Presse war hin und weg[4]. Zwei andere Brüder waren, als sie in Paris von der unerwarteten deutschen Konkurrenz erfuhren, ganz und gar nicht erfreut: Auguste und Louis Lumière[5]. Hätten die beiden von der Sache gewusst, hätten sie ihre erste eigene öffentliche und entgeltliche Filmprojektion am 28. Dezember 1895 im offiziell ersten Kino der Welt, dem Cinématographe Lumière im Untergeschoss des Grand Café in Paris, sicherlich vorverlegt[6]. Als erstes Kino der Welt – und nicht nur als Kinosaal – gilt der Laden deshalb, weil er einzig dem Zwecke des Filmevorführens diente und entgegen vieler historischer Quellen nicht – wie bei den Skladanowskys oder bei Reynaud (siehe Kapitel 005) – als befristete Show geplant war – er war höchstwahrscheinlich noch im Jahre 1901 in Betrieb[6].

Waren nun wenigstens die Deutschen diejenigen, die weltweit erstmals bewegte Realbilder durch Projektion kollektiv einem zahlenden Publikum zuführten? Leider nein. Es war, zwischenzeitlich und relativ unbemerkt ein Ami: Woodville Latham – Chemiker, Inhaber einer Kinetoskop-Halle, mit eigener Firma (Lambda Company, die erste Filmfirma überhaupt, gegründet im Dezember 1894) und mit einem früheren Edison-Mitarbeiter sowie zunächst geheimer Hilfe Dicksons an einem recht primitiven und ruckeligen Projektor (Panoptikon, später Eidoloskop) bastelnd[6], [7] – projizierte schon am 20. Mai des Jahres in New York (Eintritt verlangend) einen, auf dem Dach des Madison Square Garden gefilmten Boxkampf (Young Griffo v. Battling Charles Barnett, inszeniert von Sohnematz, verschollen) an die Fassade des Broadway Nr. 153 – ihm allein (und seinen beiden Söhnen) gehört dieser Credit[8]. Und dann kam vor den Berlinern nochmal ein Ami, im September in Atlanta: Thomas Armat, ein Mechaniker, der zur Präsentation seines mit Francis Jenkins entwickelten, dem der Lathams etwas überlegenen Projektors (dem Phantaskop) nicht nur etwas Filmisches vorführte, sondern dafür auch gleich ein provisorisches Kino baute[6], [9]. Maximal kleine Schönheitsfehler alles für die Lumières, denn letztlich zahlte sich die sorgfältige Vorbereitung der Franzosen aufs kommerzielle Filmgeschäft aus. Für die wohlhabenden Besitzer einer bestens laufenden Fabrik für fotographische Geräte mit 300 Angestellten und ausgestattet mit einer gehörigen Portion Know How waren die Amis und unsere Berliner, wie letztere selbst bitter feststellen mussten, keine Konkurrenz[10]: Ab ersten Januar 1896 hatten die Skladanowskys eigentlich schon ein festes Show-Engagement im renommierten Konzertsaal Folies Bergère in Paris. Nachdem dessen Direktor und sie selbst sich bei einer Lumière-Aufführung allerdings von der haushohen Überlegenheit des handlichen Cinématographen (Aufnahme-, Kopier- und Projektionsgerät in Einem[11]) überzeugen durften, wurden Max und Emil umgehend entlassen und aus der Stadt gejagt – sie und die Lumières wurden niemals Freunde[1].

Die Filme der Lumières zeigen, bis auf wenige Ausnahmen realistische Alltagsszenen (also wieder Dokus), die sie in den folgenden Jahren an vielen Orten der Welt, in der Regel im Freien, drehen und vorführen ließen. Eine der wenigen Ausnahmen war L’Arroseur arrosé, den ich ob seines Charmes sehr mag und den ich beinahe zum Film des Jahres erkoren hätte. Man sieht dort einen unschuldigen Gärtner, der mit einem Gartenschlauch brav ein Feld mit Grünzeug bewässert. Plötzlich stellt sich ein – für ihn natürlich nicht sichtbarer – Jungspund mit Schalk im Nacken auf den Schlauch und unterbricht den Wasserfluss. Der verdutzte Gärtner weiß nicht, wie ihm geschieht und überprüft mit fachmännischen Blicken direkt in die Mündung mehrfach die Funktion des Utensils. Zunächst: nüscht! Aaaaaaber dann (nach Lockerung des Fußes): Wasser marsch! Wir haben es hier mit dem ersten (nicht animierten) narrativen und fiktionalen Werk und dem ersten gezielten Gag der Filmgeschichte zu tun, vermutlich inspiriert von einem Comic-Strip[12], [13] (ich würde ja sagen genutzt als Storyboard, dafür fehlen allerdings die Schnitte), womit es dann auch die erste Adaptation eines geschrieben Stoffes wäre. L’Arroseur arrosé zog unzählige Remakes nach sich, angefangen bei den Lumières selbst, bis hin zu meinem hochgeschätzten Kollegen François Truffaut[13]. Das Auftreten der Lumières auf der bewegten Bildfläche ist historisch gesehen für das Kino äußerst wichtig, markiert es doch das Jahr, in dem man sich mit dem vergleichsweise ausgereiften Cinématographen aus der Grundlagenforschung auf in Richtung Anwendung (Kommerz und/oder Kunst) machte und durch die öffentliche Projektion die Form vorgab.

Und Edison? Tja, für ihn war es kein gutes Jahr. Am 2. April des Jahres verließ ihn der fähige Willie Dickson wegen, wie man so schön sagt, unüberbrückbaren Differenzen[5]. Ein Mitarbeiter hatte Edison die oben erwähnte inoffizielle Beratertätigkeit Dicksons bei den Lathams gesteckt[14], zudem kam vermutlich, dass Dickson Befürworter der Projektion war und Edison eben nicht. So schloss sich Dickson kurz den Lathams an, um dann, nachdem er feststellte, dass deren hedonistischer Lifestyle und die geringen finanziellen Mittel nicht so nach seinem Gusto waren, selbst mit anderen Partnern eine eigene Filmfirma zu gründen (American Mutoscope Company, später American Mutoscope & Biograph Company)[14]. Nun stand er da, der große Edison, geschwächt durch den Abgang seines besten Mannes und zum Ende des Jahres regelrecht ausgeknockt von zwei Franzmännern mit einem projizierenden Mini-Wunderkasten. Vielleicht ist es ihm ja posthum ein Trost, dass der wichtigste Film des Jahres – meiner Meinung nach – dennoch aus seiner Produktion stammt. Einer, wo eine Frau mit einem Beil totgemacht wird und wo so richtig Köppe rollen.

The Execution of Mary, Queen of the Scots von Alfred Clark (dem kurzfristigen Ersatz für Dickson[15]) ist eine der damals seltenen Kinetograph-Freiluftaufnahmen, und zeigt in 15 Sekunden explizit die Enthauptung der im 16. Jahrhundert von England wegen Hochverrats zum Tode verurteilten schottischen Königin Maria Stuart. Sie kniet vor dem Richtblock, legt ihren Kopf darauf, der hinter dem Block stehende Henker hebt das Beil, senkt es und trennt mit einem Hieb den Kopf vom Rumpf, der Kopf fällt zu Boden, der Henker nimmt ihn am Schopf auf und hält ihn vor sich, hinter dem Block und dem Henker stehen etwa ein Duzend schaulustige Zeitzeugen (durch die räumliche Hintereinanderanordnung der Figuren eine recht durchdachte In-Szene-Setzung bzw. Mise en scène[10]). Der erste Splatter- oder Hypergewaltfilm also, kann man  - glaube ich – sagen, wenn auch ohne pumpendes Blut. Vermutlich auch der erste Exploitation-Film, zumindest was die Gewalt betrifft. Sogar der erste vermeintliche Snuff-Film eigentlich, da angeblich so mancher Zuschauer glaubte, dass hier im Namen der Kunst tatsächlich eine Person hingerichtet wurde[16]. Freilich aber bediente man sich eines – aus heutiger Sicht deutlich als solchen auszumachenden – Tricks, dem ersten gefilmten Special Effect überhaupt: In dem Moment, wo Marys Kopf ruhig auf den Block ruhte, wurde die Kamera angehalten (Stop-Trick) und der Darsteller durch eine Puppe ersetzt (Substitution-Trick), dann wurde die Kamera wieder in Gang gesetzt und die Puppe musste dran glauben[6]. Wenn man Schnitt – wie ich – liberal definiert und auch bewusst eingesetzte Kameratechniken (wie den Stop-Trick) und weitere Teile der Postproduktion miteinbezieht, dann haben wir es vermutlich auch mit dem ersten Schnitt der Filmgeschichte zu tun. Und wir sind noch immer nicht am Ende mit den Erstlingsdaten. Vielleicht dachten Sie beim Lesen meines vorvorletzten Satz, dass ich mich mit „Darsteller“ Marys missverständlich ausgedrückt habe. Mitnichten, denn The Execution of Mary, Queen of the Scots ist offenbar auch der erste Film, in dem – warum auch immer – eine Frau von einem Mann verkörpert wird[17]. Zudem wurden erstmals echte Schauspieler eingesetzt und genretechnisch hat man wahrscheinlich den ersten aller Historienfilme gedreht[18]. Sehr genau hat man es mit den historischen Fakten allerdings auch schon damals nicht gehalten, denn in Wahrheit hatte es drei Hiebe gebraucht, bis das königliche Haupt entfernt war und beim Hochheben des abgetrennten Kopfes löste sich die Perücke, so dass peinlicherweise das jahrelang erfolgreich verborgene graue Haar entblößt wurde[16] – kein würdevoller Abgang irgendwie. Ohne Frage ein filmhistorisch wichtiger Film das Ganze, leider aber auch der Beginn einer fragwürdigen Reihe von Edison-Gewaltfilmen, die ihren traurigen und ekelhaften Höhepunkt 1903 in Electrocuting an Elephant fand, wo zur Demonstration der Gefährlichkeit von Wechselstrom ein Elefant vor laufender Kamera getötet wurde[16] und ihm, damit auch alles klappt, vorher cyanitumwickelte Karotten reingewürgt wurden[19] – mir war der Mann noch nie sympathisch. Hätte man übrigens Marys Unterrock für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, wäre umgehend die Zensur eingeschritten (siehe Kapitel 007).

Im Netz werden Sie mit gleichnamiger Suche plus „Skladanowsky“ nur auf Das boxende Känguruh und Die Serpentintänzerin stoßen, umso besser, dass am Ende der ohnehin sehr guten deutschen Filmgeschichtsdoku Auge in Auge von Michael Althen und Hans Helmut Prinzler (Alive, FAZ DVD 11, Amazon.de) das gesamte Wintergartenprogramm gezeigt wird. Sollten Sie sich – und das sollten Sie – auch sonst für die Geschichte der Gebrüder Skladanowsky interessieren, greifen sie zu Die Gebrüder Skladanowsky (Kinowelt-DVD, Amazon.de), einer Mischung aus Doku (Interview mit der bezaubernden 91-jährigen Lucie Hürtgen-Skladanowsky, der Tochter von Max) und Fiktion (die Geschichte der Brüder wird aus der Sicht der kleinen Gerti – Lucies Schwester – im Jahre 1895 erzählt, gedreht mit einer historischen Handkurbelkamera), die Wim Wenders gemeinsam mit Studenten fabriziert hat – man findet dort liebevoll gemachte Remakes der Originalfilme. L’Arroseur arrosé finden Sie genauso im Netz und was eine DVD mit schöner Auswahl an Lumière-Filmen betrifft, rate ich unbedingt zu Im Zeichen des Löwen (Arthaus, Amazon.de), denn neben dem titelgebenden und allemal sehenswerten Film von Eric Rohmer befindet sich darauf auch die deutsch untertitelte Doku Louis Lumière, in der Rohmer zusammen mit Jean Renoir und Henri Langlois die Filme der Lumières bespricht. The Execution of Mary, Queen of the Scots müssen Sie so, ggf. zusammen mit „Edison” googeln, es sei denn Sie besitzen Edison: Invention of the Movies (siehe Kapitel 003). Electrocuting an Elephant möchten Sie nicht sehen!


[1] Barber, S. (2010). Senses of cinema – The Skladanowsky Brothers: The Devil Knows. Abgerufen am 21. Februar 2011 von http://www.sensesofcinema.com/2010/feature-articles/the-skladanowsky-brothers-the-devil-knows/#b9

[2] Lange, M., & Tomzek, A. (19. Mai 2010). Das Bundesarchiv – Max Skladanowsky – Glasmaler, Tüftler oder Filmpionier. Abgerufen am 21. Februar 2011 von http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/01820/index-13.html.de

[3] Raddatz, J. (2010). Justus-Liebig-Universität Giessen – Als die Bilder laufen lernten. Abgerufen am 21. Februar 2011 von http://www.uni-giessen.de/cms/kultur/universum/universitaet1/fachjournalistik/europa-um-1900/anfaenge-des-kinos

[4] Rossell, D. (1998). Living Pictures: The Origins of the Movies (Suny Series in Cultural Studies in Cinema/Video). Albany: State University of New York Press.

[5] Karney, R., & Finler, J. W. (2005). Cinema Year by Year 1894-2005. London: Dorling Kindersley Limited.

[6] Robertson, P. (1993). Das neue Guinness Buch Film. Berlin: Ullstein Hc.

[7] Herbert, S. (1996c). Major Woodville Latham (1837-1911), Grey Latham (1867-1907) and Otway Latham (1868-1906). In S. Herbert, & L. McKernan, Who’s Who of Victorian Cinema: A Worldwide Survey. London: BFI Publishing.

[8] Dirks, T. (2011). Filmsite – Timeline of Greatest Film Milestones and Turning Points in Film History: The Pre-1900s (1890-1899). Abgerufen am 09. Februar 2011 von http://www.filmsite.org/milestonespre1900s_2.html

[9] The New York Times. (01. Oktober 1948). Thomas Armat, 81, A Pioneer in Films. Inventor of Vitascope Projector Attributed to Edison, Dies in Capital. The New York Times, S. 25

[10] Monaco, J., Bock, H.-M., & Lindroth, D. (2002). Film verstehen. Reinbek, Berlin: Rowohlt.

[11] Gießler, C., & Lein, A. (2003). Der “Cinématographe” der Gebrüder Auguste und Louis Lumière. In D. Museum, Meisterwerke aus dem Deutschen Museum V. München: Deutsches Museum.

[12] McMahan, A. (2002). Alice Guy Blache: Lost Visionary of the Cinema. New York: Continuum.

[13] Cousins, R. F. (2011). Film Reference – L’Arroseur Arrose. Abgerufen am 22. Februar 2011 von http://www.filmreference.com/Films-Am-Aw/L-Arroseur-Arrose.html

[14] Brown, R. (1996). William Kennedy-Laurie Dickson (1860-1935). In S. Herbert, & L. McKernan, Who’s Who of Victorian Cinema: A Worldwide Survey. London: BFI Publishing.

[15] Barry, M. (08. März 2010). The Art and Culture of Movies – Alfred Clark: Narrative and Special Effect Pioneer. Abgerufen am 28. Februar 2011 von http://artandcultureofmovies.blogspot.com/2010/03/alfred-clark-narrative-and-special.html

[16] North, D. (11. Februar 2011). Spectacular Attractions – Picture of the Week #65: The Execution of Mary Queen of Scots. Abgerufen am 22. Februar 2011 von http://drnorth.wordpress.com/2011/02/11/picture-of-the-week-65-the-execution-of-mary-queen-of-scots/

[17] Musser, C. (1997). Edison Motion Pictures, 1890-1900: an Annotated Filmography. Washington D. C.: Smithsonian Institution Press.

[18] Cineanalyst. (01. Dezember 2007a). The Internet Movie Database – The Execution of Mary, Queen of Scots (1895) – Firsts: Edit and Production. Abgerufen am 22. Februar 2011 von http://www.imdb.com/title/tt0132134/usercomments

[19] Long, T. (04. Januar 2008). Wired – 1903: Edison Fries an Elephant to Prove His Point. Abgerufen am 22. Februar 2011 von http://www.wired.com/science/discoveries/news/2008/01/dayintech_0104?

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