005 (1892): Pauvre Pierrot, entstanden und aufgeführt 1892 in Frankreich, Regie: Émile Reynaud

Ziemlich sicher: Der erste animierte Film, zudem der erste in Farbe und der erste mit musikalischer Untermalung und der erste narrative und der erste, der mit einem Poster beworben wurde[1], [2]. Bien sur: von einem Franzos. „Aaaaber Animationen gab es doch schon zuvor!“, werden Sie sagen. „Vor 5200 Jahren sogar schon, in so einer Drehschüssel, in die man reinschauen kann[3], die dann quasi immer weiterentwickelt und irgendwann mal Zoetrop genannt wurde[4]. So Drehscheiben[5] und Daumenkino[6] gabs auch schon und auch schon Projektionsverfahren, z.B. die Laterna Magica[7]! Außerdem übrigens sind doch diese Fotoserien (siehe Kapitel 001) ehrlichgesagt auch schon Filme.“ Stimmt wahrnehmungstechnisch alles, stimmt faktisch aber nicht, denn im vorliegenden Buch geht es nun mal um das Medium Film…und Reynaud rückprojizierte seine auf einen langen GelatineFILM gemalten Bilder mit einem vergleichsweise modernen und cineastischen Verfahren, dem von ihm erfundenen Praxinoskop, auf eine lichtdurchlässige Leinwand[2]. Dazu gab es bei den öffentlichen Aufführungen der  insgesamt drei im Jahre 1892 entstandenen Werke im Waxfigurenmuseum in Paris noch zünftige Livemusik von Gaston Paulin (Piano)[2]. Hätte es damals schon RTL II-News gegeben, hätte man vom ersten Public Viewing berichtet und also von der Geburt des Kinos (mit zahlendem Publikum). Hurra!!!  Reynaud jedenfalls, von Haus aus Mechaniker und Fotograph, konnte allein von der Vorführung seiner Kunst langfristig nicht leben und starb letztlich arm und depressiv in einem Heim, nicht allerdings ohne vorher seinen Apparat und unzählige seiner Zeichnungen wütend in der Seine zu versenken[7]. In Amerika indes drehten Edison und Co. weiter Sportclips und formierten sich zur härtesten Konkurrenz des jungen Marktes. Ihre Kamera war mittlerweile serienreif und somit kommerziell auswertbar, wozu sich die beiden Williams souverän vor dieser in ihrem Film A Hand Shake beglückwünschten[8]. Die Amis! Ach ja: Ein gewisser Louis Lumière macht erste Testaufnahmen[9].

Sie können „Pauvre Pierrot“ googeln und Sie werden etwas finden. Sie können auf Amazon.de, sofern Sie des Französischen mächtig sind, auch Jacques Kermabon’s Buch Du praxinoscope au cellulo: Un demi-siècle de cinéma d’animation en France (1892 – 1948) erstehen, dem eine DVD des Films beiliegt oder in der bei Quantum Leap erschienenen UK-DVD Méliès the Magician (bei Amazon.co.uk) beigemengten Doku The Magic of Méliès von Jacques Mény einen Ausschnitt betrachten. Wie auch immer, Sie werden eine betörende Story erleben, den liebestrunkenen Kampf von Pierrot und Harlequin um die hübsche Columbine. Während der hoffnungslos romantische Pierrot im Halbmondschein vor ihrer Haustür zunächst mit einem Strauß Blumen und dann mit einem gesungenen Ständchen zu überzeugen versucht, ist Harlequin eher so der plumpe und draufgängerische Schürzenjäger. Er lässt sich nichts Besonderes einfallen, will einfach nur ran an die Mutti und führt statt Blumen oder einer Gitarre stets einen Schlagstocks mit sich. Da sich die Auserwählte letztlich nicht so recht entscheiden kann oder will, kommt es zum dramatischen Showdown.  Wer der  “arme” Verlierer sein wird, darauf deutet der Titel des Films ja ziemlich unzweideutig hin. Die Vorführungen damals dauerten übrigens unterschiedlich lang, etwa zwischen 13 und 15 Minuten, und zwar weil Reynaud seinen 36 Meter langen Film – der ansonsten etwa dem 35 mm-Format[10] ähnelte, das Dickson bereits im Frühjahr 1891 entwickelt hatte[11] -via Handbetrieb von einer Rolle auf die andere spulte. Émile Reynaud war unwiederbringbar ein versatiler Held! Apropos Handbetrieb: Man munkelt die Nackidei-Foto-Animationen von Muybridge (siehe Kapitel 001) sollen für einige Kulturbaunausen dennoch animierender gewesen sein.


[1] Auzel, D. (1992). Emile Reynaud et l’image s’anima. Boulogne-Billancourt: Du May.

[2] Herbert, S. (1996a). Charles-Émile Reynaud (1844-1918). In S. Herbert, & L. McKernan, Who’s Who of Victorian Cinema: A Worldwide Survey. London: BFI Publishing.

[3] Ball, R. (12. März 2008). Animation Magazine: Oldest animation discovered in Iran. Abgerufen am 02. Februar 2011 von http://www.animationmagazine.net/features/oldest-animation-discovered-in-iran/

[4] Fang, I., & Ross, K. (1995-1996). The Media History Project: 1st – 11th Centuries. Abgerufen am 31. März 2007 von http://www.mediahistory.umn.edu/time/1099.html

[5] Plateau, J. (1839). Memoire Sur L’Irradiation. Brüssel.

[6] Gethmann, D., Gorschlüter, P., Groos, U., & Schulz, C. B. (2005). Daumenkino. The Flip Book Show. Köln: Snoeck.

[7] Pfragner, J. (1974). Motion Picture: From Magic Lantern to Sound Film. London: Bailey Bros. & Swinfen Ltd.

[8] Musser, C. (1994). The Emergence of Cinema: The American Screen to 1907 (History of the American Cinema). Berkeley: University of California Press.

[9] IMDb.com Inc. (1990-2011g). The Internet Movie Database – Le prince de Galles (1892). Abgerufen am 24. Februar 2011 von http://www.imdb.com/title/tt0234520/

[10] Mees, C. E. (1961). From dry plates to ektachrome film: A story of photographic research. New York: Ziff-Davis Publishing Inc.

[11] Robertson, P. (1993). Das neue Guinness Buch Film. Berlin: Ullstein Hc.

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